Die COP26 hat die Dringlichkeit eines beschleunigten Handelns zur Eindämmung des Klimawandels in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Auch wenn die Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union (EU) seit 1990 um 28 % gesunken sind, ist es noch ein weiter Weg bis zur CO2-Neutralität.1
Einige dieser Emissionen sind besonders schwer einzudämmen, insbesondere in der Industrie. Im Jahr 2020 beliefen sich die Industrieemissionen auf 520 Mio. t CO2-Äquivalente und damit auf 21 % der gesamten Treibhausgasemissionen der EU-27.2 Die Produktion von Chemikalien, Metallen und Mineralien verursacht die meisten Industrieemissionen, wobei allein 25 % auf die Stahlerzeugung entfallen.3
Aus diesem Grund ist die Dekarbonisierung der Industrie eine der Prioritäten in der Strategie der EU, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Der europäische Green Deal ist das Paket politischer Initiativen, mit dem die EU Emissionsneutralität erreichen und auf dem Weltmarkt für nachhaltige Produkte und Dienstleistungen eine Führungsrolle übernehmen wird. Dazu zählt auch die Neue Industriestrategie, die den dualen Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft unterstützt. Dieser politische Rahmen sieht unter anderem folgende Ansätze vor:
Die Neue Industriestrategie ergänzt andere grüne industriepolitische Instrumente wie die Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU) und das EU-Emissionshandelssystem (EU-ETS). Diese haben bisher jedoch noch keine tragfähigen Geschäftsmodelle hervorgebracht, was unter anderem an den schwankenden und extrem unsicheren CO2-Preisen liegt. Um dieses Defizit zu beheben, könnten für die Industrie innovative Emissionsmanagement-Strategien erforderlich sein.
In diesem Artikel wird beleuchtet, wie derartige Strategien entwickelt, eingesetzt und kombiniert werden könnten, um die Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen. Wir veranschaulichen unsere Argumente mit Beispielen aus der Eisen- und Stahlindustrie — einer der Branchen mit den höchsten CO2-Emissionen und damit ein wichtiger Schwerpunktbereich für die Dekarbonisierung.
Staatliche Stellen und Industrieunternehmen engagieren sich zunehmend für den Klimaschutz und sind bereit, entsprechend zu handeln. Die weltweit führenden Stahlproduzenten Arcelor Mittal und Tata Steel haben sich verpflichtet, ihre Emissionen bis 2030 um 30 % zu senken.
Fünf Kategorien emissionsarmer Alternativen werden derzeit entwickelt:
1. Alternativen auf der Basis von Biomasse
Biomasse kann als Brennstoff oder als Ausgangsmaterial eingesetzt werden. Bei einer nachhaltigen Bereitstellung kann Biomasse als klimaneutraler Brennstoff betrachtet werden. In einigen Stahlwerken in Brasilien wird bereits Holzkohle als Ersatz für Steinkohle verwendet.
2. Alternativen auf der Basis von grünem Wasserstoff
Wie Biomasse kann auch Wasserstoff, sofern er mit erneuerbarem Strom erzeugt wird, sowohl als Brennstoff als auch als Ausgangsmaterial dienen. Deutschland und Frankreich haben eigene Pläne und Budgets für die Entwicklung von grünem Wasserstoffaufgestellt. Hierdurch wird für die Industrie erhebliche Dynamik bezüglich des Tests dieses Energieträgers erzeugt. Wasserstoff könnte beispielsweise eine hervorragende Alternative für Erdgas im Direktreduktions-Elektrolichtbogenofen bei der Stahlherstellung sein.
3. Alternativen auf der Basis von Ökostrom
Die Elektrifizierung von Prozessen (wie die Elektrifizierung von Öfen) ist möglich. Sie könnte jedoch auf Wärmeprozesse im Niedrig- bis Mitteltemperaturbereich beschränkt sein, wohingegen die Eisen- und Stahlindustrie in der Regel mit Hochtemperaturprozessen arbeitet.
4. Alternativen auf der Basis von Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung
Mittels Kohlenstoffabscheidung könnte es gelingen, die verbleibenden Emissionen zu senken und gleichzeitig Synergien zwischen CO2-Ausstoßern und CO2-Verbrauchern in der Industrie zu erzeugen. Im Stahlsektor könnte CO2 am Hochofenauslass abgeschieden und dann zur Herstellung CO2-neutraler Kraftstoffe verwendet werden. Dieser Prozess wird als Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (Carbon Capture & Usage, CCU) bezeichnet. Alternativ wären der Transport und die dauerhafte Speicherung (Carbon Capture & Storage, CCS) in tiefen unterirdischen Gesteinsschichten denkbar.
5. Neue Prozesse
Verbesserte Verfahren unter Einsatz anderer chemischen Reaktionen oder Anlagen befinden sich derzeit in der Entwicklung. Hierzu zählt das Schmelzreduktionsverfahren zur Stahlerzeugung, das derzeit im Pilotprojekt HIsarna getestet wird.4
Die Untersuchung von 145 europäischen Pilotprojekten zeigt, dass die Industrie diese fünf Lösungen in Betracht zieht. Mehr als die Hälfte von ihnen erforscht kostspielige und unausgereifte Lösungen wie die Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung sowie neue Verfahren.
Die Einführung dieser Technologien wird für die Dekarbonisierung der Industrie entscheidend sein. Ihre kommerzielle Wettbewerbsfähigkeit wird derzeit jedoch durch verschiedene Hürden behindert.
ENGIE Impact hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Industrie auf dem Weg zur Dekarbonisierung zu begleiten. Wir unterstützen Industrieunternehmen bei der Auswahl solider technisch-wirtschaftlicher Lösungen, überwachen unterstützende strategische Maßnahmen und erarbeiten Roadmaps für die industrielle Dekarbonisierung. Lassen Sie uns anfangen →
Zunächst sind mehrere dieser Technologien noch relativ neu oder mit hohen Kosten verbunden. Industrieunternehmen haben in der Regel hohe Vorabinvestitionen und Betriebskosten bei geringen und schwankenden Gewinnspannen. Außerdem haben Industrieanlagen in der Regel lange Lebenszyklen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken. Dies macht es schwierig, den Anlagenbestand anzugehen und Neuinvestitionen effektiv zu planen. Die Unternehmen müssen somit komplexe geschäftliche Argumente entwickeln und entscheiden sich oft für bewährte Anlagestrategien, die die Entwicklung innovativer Technologien hemmen.
Darüber hinaus ist die europäische Industrie ein Wirtschaftszweig mit intensiver internationaler Handelstätigkeit. Daher beruht die Wettbewerbsfähigkeit vornehmlich auf niedrigen Preisen. Dies gilt insbesondere für die Stahlindustrie und die Überproduktion von Stahl in außereuropäischen Ländern. Im Jahr 2020 importierte die EU 3,5 Mio. t Stahl (Nettoimporte), vornehmlich aus europäischen Nicht-EU-Staaten und Asien.5 Außerdem sind Industrieprodukte oft standardisiert, was dazu führt, dass der Preis zum zentralen Kaufkriterium wird. Für derartige Industriezweige ist es nach wie vor schwierig, einen Markt mit Kunden zu finden, die bereit sind, einen Aufpreis für umweltfreundliche Produkte zu zahlen.
Hinzu kommt, dass die Märkte für Industrieerzeugnisse aufgrund instabiler Rohstoffpreise oft extrem unsicher sind. Seit der Einführung des Emissionshandelssystems im Jahr 2005 hat die EU ein weiteres unbeständiges Gut in die Industriewirtschaft eingeführt: CO2. Im Zeitraum 2011-2017 lag der Preis bei 5-10 €/t CO2, 2019 erreichte er 30 €/t CO2, 2020 sank er auf 15 €/t CO2 und stieg im Dezember 2021 uneinheitlich und sprunghaft bis auf 90 €/t CO2. Das EU-ETS bietet also nicht die für langfristige Investitionen erforderliche Preissicherheit und -stabilität.
Die vollständige Dekarbonisierung der Industrie wird nicht gelingen, solange es an ordnungspolitischen Anreizen fehlt, mit denen die Unternehmen zu mehr Tempo bewegt werden. Für einen Sektor mit einer langen Anlagenlebensdauer und diversen im Entstehen begriffenen Technologien ist es besonders wichtig, über klare und langfristige Marktindikatoren zu verfügen, um zum richtigen Zeitpunkt in zukunftssichere Lösungen investieren zu können.
Ein politisches Instrument, das die CO2-Preisschwankungen genau ausgleicht, sind Carbon Contracts for Difference (CCfD) — ein projektbezogenes Finanzinstrument, das einen festen Kohlenstoffpreis über einen bestimmten Zeitraum garantiert. Eine staatliche Stelle und ein privater Akteur schließen einen Vertrag, in dem sie einen CO2-Preis, den sogenannten Basispreis, festlegen. Jährlich erstattet eine Partei der anderen Partei die Differenz zwischen dem Basispreis und dem tatsächlichen CO2-Preis. Liegt der tatsächliche CO2-Preis unter dem Basispreis, zahlt der Staat die Differenz an den Investor, gleich einer herkömmlichen Subvention. Bei einem höheren tatsächlichen CO2-Preis zahlt das Privatunternehmen den Differenzbetrag an den Staat. Der Kommerzialisierungsvertrag ist eine Variante des CCfD, bei der privatwirtschaftliche Unternehmen keinen Ausgleich an den Staat zahlen müssen, wenn der CO2-Preis über dem Basispreis liegt.
In den Niederlanden kommen CCfD bereits für ein CCS-Projekt zum Einsatz, und das niederländische Förderprogramm SDE++ funktioniert wie ein Differenzvertrag. Auch die jüngste deutsche Koalition setzt im Rahmen ihrer Vorschläge zum Erreichen von Emissionsneutralität und insbesondere zur beschleunigten Skalierung von grünem Wasserstoff in Teilen auf CO2-Differenzverträge. Dieser Fördermechanismus hat mehrere Vorteile:
Trotz dieser Vorteile gibt es einige Herausforderungen und Gefahren, die es zu vermeiden gilt. Sie unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen und zielgerichteten Gestaltung dieses strategischen Fördermechanismus.
Unter Berücksichtigung der vorstehend genannten Elemente bei der Ausgestaltung des CCfD-Mechanismus sollten sich optimale Lösungen für Emissionssenkungen in der Industrie finden lassen — oder, anders ausgedrückt, die kostengünstigsten Lösungen mit dem höchsten Reduktionspotenzial.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass CO2-Differenzverträge eine Antwort auf eine der komplexesten Herausforderungen der industriellen Dekarbonisierung darstellen könnten.
Mit einer klaren und stabilen Perspektive für den CO2-Preis könnten CO2-Differenzverträge andere Mechanismen zur Förderung emissionsarmer Technologien wie den Innovationsfonds ergänzen und eine Dekarbonisierung der Industrie in großem Maßstab ermöglichen. Sobald eine ausreichende Größenordnung erreicht ist, könnte über bestehende langfristige Mechanismen wie das CO2-Grenzausgleichssystem oder grüne Anforderungen an Produktmaterialien eine Verlagerung von CO2-Emissionen verhindert werden.
Die europäische Industrie braucht einen unterstützenden Rechtsrahmen, um den Dekarbonisierungsprozess zu beschleunigen. Insbesondere muss sie die Lücke zwischen der Entwicklung emissionsarmer Technologien und ihrer Marktreife schließen. Sorgfältig gestaltete CO2-Differenzverträge könnten ein vielversprechendes politisches Instrument sein, um das mit hohen Investitionen verbundene Risiko über eine Stabilisierung des CO2-Preises zu senken.
1, 2 ENGIE Group Strategy Department, Dashboard of Energy Transition, 2021
3Laut einer von ENGIE Impact 2020 durchgeführten Studie gingen 75 % der industriellen Treibhausgasemissionen in der EU im Jahr 2018 auf die Sektoren Chemie, Metalle und Mineralien zurück.
4 HIsarna ist ein Pilotprojekt von Tata Steel, das seit 2011 in den Niederlanden läuft. Erprobt wird eine Technologie, mit der mehrere Vorverarbeitungsschritte entfallen und weniger strenge Anforderungen an die Qualität der Rohstoffe gestellt werden. Bis zur Marktreife dieser Technologie wird es ab 2020 rund 5 bis 10 Jahre dauern. Ziel ist es, bis 2030 ein HIsarna-Werk im industriellen Maßstab zu errichten.
5 Eurofer, Zahlen zur europäischen Stahlindustrie 2021
Beschleunigen Sie Ihre industrielle Dekarbonisierung noch heute.